Zum Klassencharakter der Coronapandemie

Seit einigen Monaten befindet sich die Welt im Ausnahmezustand. Schon jetzt ist abzusehen, dass die aktuelle COVID 19 Pandemie fundamentale gesellschaftliche und politische Transformationen mit sich bringen wird. Während nachbarschaftliche Solidarität und Rückzug ins Private – wovon wiederum Menschen ohne Wohnung, in Geflüchtetenunterkünften oder Knästen ausgeschlossen bleiben – weiterhin geboten zu sein scheinen, sorgen sich gleichzeitig viele Menschen angesichts des zunehmend autoritären Vorgehens vieler Staaten. An der Hoffnung festhaltend, dass diese Transformation auch ein emanzipatorisches Potential haben könnte, welches es nun zu erkämpfen gilt, formulieren wir folgende Analyse und Kritik am aktuellen Vorgehen der kapitalistischen Staaten.
In den letzten Wochen und Tagen ist die Reaktion auf diese Entwicklungen in Deutschland durch einen zunehmenden staatlichen Zugriff auf das alltägliche Leben geprägt. Seit langem betonten marxistische Staatstheoretiker*innen, dass der Staat kein neutraler Akteur ist, sondern stets einen Klassencharakter in sich und seinen Handlungen trägt. Während die Klassengesellschaft im alltäglichen Diskurs ebenso wie das Gespenst des Kommunismus als ein verstaubtes Relikt längst vergangener Zeiten erscheint, so wird der Klassencharakter des Kapitalismus in der aktuellen Krise wieder deutlich sichtbar.
Der Zugriff des Staates auf die Arbeiter_innen im Spätkapitalismus manifestiert sich nicht nur als Zugriff auf deren Produktivität, sondern vielmehr als Zugriff auf deren Leben. Die Staatsmacht wird damit zur Biomacht. Nach Hardt und Negri (2003: 38) ist Biomacht, „eine Form die das soziale Leben von innen heraus Regeln unterwirft, es verfolgt, interpretiert, absorbiert und schließlich neu artikuliert“. Konkret bedeutet dies: Alltägliches wird zunehmend reguliert und reglementiert. Unter den Vorzeichen der aktuellen Krise liegt jedoch der staatliche Zugriff auf die Produktion und Reproduktion des Lebens offen. Denn angesichts des nach neoliberalen Rationalitäten ausgerichteten Gesundheitssystems wird in Zeiten der Pandemie die Frage wer leben darf und wer sterben muss, real.
Nicht nur die Versorgung im Krankheitsfall ist dadurch betroffen, der Klassencharakter des biopolitischen Regimes manifestiert sich heute insbesondere in Exposition und Schutz vor dem Virus. Während die sogenannten Eliten sich bereits vor Wochen ins Homeoffice zurückgezogen haben, wird die Produktion und Versorgung unter potentiell lebensgefährlichen Voraussetzungen aufrechterhalten. Die geringen Verdienste und besonderen Härten, welche hier zum Tragen kommen, stehen dabei in einem drastischen Missverhältnis zu Lohn und gesellschaftlicher Anerkennung. Dazu passt, dass bereits seit Wochen Wirtschaftshilfen diskutiert werden und mittlerweile in ungekanntem Ausmaß bereitgestellt wurden, die marktwirtschaftliche Form des Gesundheitssystems jedoch nicht fundamental zur Debatte steht. Denn besonders betroffen von der aktuellen Pandemie sind keine großen Wirtschaftsunternehmen, sondern Menschen, die im Gesundheitssystem, Einzelhandel, Zustellbetrieben und der Produktion arbeiten. Häufig unzureichend geschützt, haben sie keine Möglichkeit sich gegen den Zugriff des Staates auf ihr Leben zu wehren. Um die Produktionsverhältnisse aufrechtzuerhalten, scheint der Staat auch nicht davor zurückzuschrecken, das Menschenrecht auf Leben und Sicherheit zu beschneiden.
Dieser gesellschaftliche Eingriff geschieht ganz zentral über die staatliche Kontrolle menschlichen Verhaltens und wird durch Diskurse um Sicherheit legitimiert. Und so lässt sich dieses neue biopolitische Paradigma mit Foucault auch als zentrales Merkmal der Kontrollgesellschaft definieren. „Macht drückt sich als Kontrolle aus, die Bewusstsein und Körper der Bevölkerung und zur gleichen Zeit die Gesamtheit sozialer Beziehungen durchdringt“ (Hardt & Negri 2003: 39). Der direkte Zugriff des Staates auf die Produktion und Reproduktion führt die Transformation der Produktionsverhältnisse in gesellschaftliche Verhältnisse (Tronti 1962) noch weiter, sodass das gesamte gesellschaftliche Leben davon erfasst ist. Während diese Erfassung aller gesellschaftlichen Bereiche Faktum ist, so nimmt sie im Alltag eine verschleierte und internalisierte Form an. Im aktuellen Ausnahmezustand jedoch manifestiert sie sich als repressiver Zugriff des Staates, welcher bei gleichzeitigem Zwang zur Fortführung der Produktion Ausgangssperren verhängt.
Untrennbar mit der Entscheidung Menschen dem möglichen Tod durch das Virus auszusetzen ist auch die aktuelle Lage an Europas Außengrenzen verbunden. Dabei beziehen wir uns besonders auf die sich stetig verschlimmernde Situation in den Lagern auf Lesbos. Während sich im inneren Europas der Klassencharakter der Pandemie zeigt, so zeigt sich an den Außengrenzen die staatliche Macht in Form der Entscheidungsfähigkeit als Souverän über Leben und Sterbenlassen noch deutlicher. Angesichts rationierter Lebensmittel und einer zunehmend gefährlichen Lebenssituation sind die Menschen dort auf das nackte (Über-)Leben zurückgeworfen, sie werden zum Homo Sacer unserer Zeit; was im Anschluss an Agamben die Reduktion auf die bloße Leiblichkeit des Menschen, jenseits aller Bürger- und Menschenrechte unter den Augen des Souveräns – in diesem Fall des Staates – beschreibt. Damit bleiben diese Menschen schutzlos struktureller Gewalt und einem möglichen Tod ausgesetzt. Die Indifferenz, mit der das Aussetzen von Menschenrechten in dieser Situation betrachtet wird, erschreckt dabei mehr als alles andere. Gleichzeitig manifestiert sich hier ein räumlicher Aspekt des Klassencharakters der Pandemie: Die Entrechteten sind gleichzeitig die Bewohner_innen der Peripherie.
Vor diesem Hintergrund verdeutlicht sich Gramscis Definition des Staates als „Hegemonie gepanzert mit Zwang“. Selten trat der Zwangscharakter von Staaten so deutlich zutage wie heute, und selten wurde die Unterordnung unter neoliberale Rationalitäten so deutlich. Und in all dieser Deutlichkeit tritt auch die inhärente Brüchigkeit des Staates hervor. Darum ist jetzt die Zeit eine neue gesellschaftliche Verfasstheit zu erkämpfen, jenseits von Klasse und Nation. Insbesondere die radikale Kritik an den Zuständen auf Lesbos und des zunehmend repressiven Zugriffs der Staatsgewalt erachten wir als unabdingbar. Daran müssen wir unsere alltägliche Praxis und unsere Handlungen ausrichten, um diese Zustände und das untrennbar damit verwobene Klassenverhältnis zu überwinden; was in einem ersten Schritt die Kritik an den Menschenrechtsverletzungen auf Lesbos ebenso wie an den kapitalistischen Logiken der Pandemiebekämpfung beinhaltet.