Warum es keine unpolitischen Geographiestudierenden geben darf

(Dieser Artikel erschien bereits in der Sonderausgabe der Geographikerin zum DKG im September 2019)

Was ist Geographie?

Die Geographie als Wissenschaft beschäftig sich mit der Erdoberfläche, dem Menschen, seiner materiellen und geistigen Umwelt, sowie dem Zusammenhang zwischen beiden. Ihre besondere Stärke ist dabei, dass sie Natur- und Gesellschaftswissenschaften verbindet, eine Brücke schlägt zwischen verschiedene Perspektiven und Methoden und somit vielfältige Zusammenhänge beschreibt und betrachtet (vgl. Deutsche Gesellschaft für Geographie DGfG: Geographie).

Ein an Bedeutung gewinnendes Teilgebiet der Geographie ist die Kritische Geographie. Diese betrachtet Gesellschaft und geographische Verhältnisse kritisch (vgl. AK Kritische Geographie). Es scheint ein wenig absurd, dass ein Teilgebiet der Wissenschaft Geographie explizit „kritisch“ ist bzw. kritische Theorien und Perspektiven untersucht. Tatsächlich hat Wissenschaft an sich ja den Anspruch kritisch zu sein. Das heißt sie sollte immer in Kontroversen verlaufen, mit Ansätzen und Theorien, welche sich gegenüberstehen, untersuchen und widerlegen (vgl. Markard 2011). Die Entstehung eines kritischen Zweiges der Geographie deuten darauf hin, dass gewisse Paradigmen der Geographie bis heute nicht hinreichend hinterfragt werden.

Ich muss aktiv werden!

Nichts desto trotz lehrt die Geographie in systematischen Zusammenhängen zu denken und Sachverhalte in einen Kontext zu setzen. Besonders wichtig ist dies, wenn es um die Mensch- Umwelt- Beziehung geht. Die Entstehung unserer Umwelt, die Einflussnahme des Menschen, die Zerstörung der Umwelt, welche weitreichenden Folgen dies für Natur und Gesellschaft hat und mögliche Handlungsperspektiven sind bedeutende Fragestellungen, wenn es um unsere Zukunft geht.

Wenn wir uns, als Geographiestudierende, die Mensch-Umwelt-Beziehungen ansehen, wenn wir von gravierenden globalen Umweltveränderungen, von zunehmender sozialer Ungleichheit und bestehenden Machtverhältnissen Verknappung der natürlichen Ressourcen als Folge menschlichen Handelns lesen, hören und reden wird klar, dass dies ein inakzeptabler Zustand ist. Uns wird klar, dass sich etwas verändern muss, dass wir unseren Lebensstil und unser Handeln in Frage stellen sollten und dass wir aktiv werden müssen.

Wie werde ich aktiv?

Aber wie genau werde ich aktiv? Was gibt es denn wirklich für Möglichkeiten mit dem Engagement und der Zeit, die investiert wird, was zu erreichen? 

Zunächst gibt es die Möglichkeiten, die jeder und jede mit einer Wahlberechtigung hat und zwar aufgrund von sachlichen Fakten seine oder ihre Stimme bei Wahlen abzugeben. Wenn einem das noch nicht reicht, kann man auch in die Jugendorganisationen von Parteien eintreten und so realpolitische Entscheidungsprozesse begleiten. Das ist eine sehr gute Möglichkeit die eigene Stadt mitzugestalten und so natürlich auch politische Entscheidungen örtlich erfahrbar(er) zu machen. 

Hört sich für den Anfang nach zu viel Verantwortung an? Es gibt auch andere Möglichkeiten mitzumischen. Dazu bietet sich die Hochschulpolitik an. Egal ob FSR (Fachschaftsrat), StuRa/AStA, Referat oder Hochschulgruppen. An jeder Uni oder Hochschule gibt es Möglichkeiten sich einzubringen. Da kommt es dann ganz auf dein eigenes Interesse an. Hier ist vor allem die Suchmaschine deiner Wahl eine super Option sich zu informieren, um offene Treffen und natürlich auch Aktionen abzupassen oder zu schauen welche Aufgaben am meisten zusagen. Denn auch die Universität ist kein komplett starres Gebilde wo studentische Interessen sichtbar gemacht werden müssen und dementsprechend auch stark vertreten sein sollten.

Eine andere wirksame Maßnahme sind natürlich auch Strukturen außerhalb der Uni. In den meisten Unistädten gibt es ein weites Spektrum von Initiativen, die sich im Bereich von zivilen Ungehorsam, über „Normale Demos“, bis hin zu Kunstaktionen im öffentlichen Raum betätigen, um auf bestimmte Themen aufmerksam zu machen. Auch hier heißt es sich einfach mal hinter den Rechner oder ganz zeitgemäß das Smartphone zu klemmen und sich schlau zu machen.

 Ihr habt so ziemlich alle Initiativen, Gruppen und alternativen Orte abgeklappert aber immer noch nichts gefunden was zu euch passt? Dann heißt es selbst kreativ werden. Egal ob ihr euch erstmal mit Stickern eures Vertrauens bewaffnet und loszieht oder ihr einen Vortrag organisiert oder vielleicht direkt eine Demo? 

Klar stellt sich dann die Frage, wie das Ganze funktionieren soll? Die Antwort: Skillsharing! Es gibt immer wieder Workshops und Vorträge, wo Menschen von ihren Erfahrungen berichten und ihr Wissen teilen. Ansonsten bietet es sich auch immer an Menschen aus eurem Dunstkreis von denen ihr wisst, dass sie schon das ein oder andere Mal bei einer Aktion oder Veranstaltung mitgewirkt haben, mit Fragen zu löchern, oder im Optimalfall können sie euch mit Menschen in Kontakt bringen die schon einmal etwas Ähnliches geplant und durchgeführt haben. 

Gerade bei Familienfeiern fallen gerne mal Sätze und Aussagen, bei denen unsereins doch schlucken muss. Aber gerade im eigenen (familiären Umfeld) anzufangen kann manchmal sehr ernüchternd sein oder eben auch spannend, weil man über seinen eigenen Horizont hinausguckt. Wichtig ist aber im Gespräch zu bleiben! Klar fällt das manchmal schwer, aber bei Diskussionen geht es nicht um das „Gewinnen“ sondern auch darum neue Impulse zu setzten. Selbst wenn ihr euer Gegenüber nicht von vornherein überzeugt, wird doch oftmals sehr viel mehr angestoßen als wir in dem Augenblick merken. 

Was gibt es für Hürden?

Falls ihr jetzt schon so weit seid und eine Initiative gefunden habt, die euch zusagt, aber noch mit euch hadert, einfach mal Kontakt aufzunehmen oder zum offenen Plenum zu gehen, lasst euch gesagt sein: Es lohnt sich!

Es ist nie leicht irgendwo hinzugehen, wo man der oder die Neue ist und niemanden kennt. Vielleicht habt ihr eine Freundin oder einen Freund, der sich auch nicht traut, aber Bock hat mit euch gemeinsam aktiv zu werden…also: vernetzt euch! 

Falls das nicht der Fall ist macht euch bewusst, dass ihr und die ganzen neuen Menschen auf dem Plenum wegen vielen gemeinsamen Überzeugungen zusammen dort sind. Sowas verbindet und lässt auch oft neue Freundschaften entstehen! Sowohl an positiven und negativen Erfahrungen kann mensch wachsen. Wenn ihr euch dann noch miteinander freuen oder euch gegenseitig bestärken könnt, ist das womöglich etwas sehr Bereicherndes.

Überzeugt aber irgendwie neben Sport, Freizeit und Uni keine Zeit? 

Na dann lasst euch gesagt sein, dass auch so etwas wie die Regelstudienzeit überwindbar ist. Klar kann so etwas im Lebenslauf nicht immer sehr elegant sein, aber gerade durch politisches Engagement kann mensch viel über Organisationsabläufe lernen und Softskills sammeln. Wie in großen Gruppen effizient(er) gearbeitet und vor allem kommuniziert werden kann, wird in Politgruppen erfahrbar. Das sind Fähigkeiten, die ihr euch zu Nutze machen solltet. Abgesehen natürlich davon, dass euer Engagement und Ehrgeiz für die Bekämpfung gesellschaftlicher Ungleichheiten und das Erreichen eines besseren Zustandes als den gegenwärtigen, immer bestärkt werden muss!


Ein kleines Beispiel, wie Geographie politisch wird:

Ich saß in einer Vorlesung über „politische Geographie in der Stadt“. Der Dozent stellte alltägliche stadtpolitische Interventionen vor, darunter Hausbesetzungen, Foodsharing und die Critical Mass. Critical Mass – davon hatte ich schon gehört. Der Paragraph 27 der StVO erlaubt mehr als 15 Radfahrer*innen als geschlossener Verband  und unter Einhaltung der Verkehrsregeln zu zweit nebeneinander auf der Fahrbahn radeln zu dürfen. Fahrradfahrer*innen nutzen diese Regelung als Aktionsform und treffen sich scheinbar zufällig, um darauf aufmerksam zu machen, dass auch sie Teil des Straßenverkehrs sind. Als geschlossene kritische Masse fahren sie dann in entspanntem Tempo klingelnd durch die Stadt. Jeden letzten Freitag findet auch so eine Critical Mass in Dresden statt.

Was neu war? Der Dozent stellte auch Initiativen aus anderen Städten vor, in denen Schüler*innen, Student*innen, Arbeiter*innen täglich als Critical Mass zu ihrem Arbeitsmittelpunkt fahren. Das wollten wir auch in Dresden, denn jeden Tag fahren hunderte Menschen zwischen Dresden-Neustadt und Dresden-Süd hin und her. Unter dem Motto „Gemeinsam statt Einsam“ gründeten wir eine Gruppe, druckten Flyer, entwarfen Haltestellenschilder und das wichtigste: machten ganz viel Werbung. Am 8. April war es dann soweit. Mit 30 Menschen radelten wir gemeinsam in Richtung Uni. Innerhalb von zwei Tagen, waren an die 100 Menschen dabei. Seitdem fährt täglich von Montag bis Freitag eine Critical Mass in Richtung Uni und zeigt, dass wir keinen Bock mehr auf Autos, Lärm, Feinstaub, Dreck und Klimawandel haben. 


„Der Klimawandel wartet nicht bis dein Bachelor fertig ist“

Dieses Zitat verdeutlicht genau das, was wir wollen: Werde aktiv! Wir als Geographiestudierende wissen doch genau, dass die Klimaerwärmung faktisch existiert und warum es sie gibt. Sie ist ein menschengemachtes Problem, verursacht durch Rodungen, industrielle Landwirtschaft und Viehzucht sowie durch die Nutzung und Verbrennung energieintensiver Ressourcen wie Steinkohle, Braunkohle, Erdöl etc.. Auch das ungebremste Wachstumsparadigma  und mehr Konsum führen zu Umweltzerstörung. 

Neben erheblichen Konsequenzen für die Ökosysteme hat die Klimaerwärmung weitreichende Folgen für unsere Gesellschaft und nachfolgende Generationen. Das Stichwort Klimagerechtigkeit sollte dabei allen Geographiestudent*innen ein Begriff sein. Hauptleidtragende des Klimawandels werden weniger die Verursacher*innen (des globalen Nordens) sein, sondern Menschen im globalen Süden, arme Menschen, Indigene, Bäuer*innen, kranke Menschen, Frauen. Das bedeutet: Der Klimawandel könnte sogar bestehende Ungleichheiten verschärfen. Damit muss Schluss sein. Wir wollen und müssen das Zwei-Grad-Ziel erreichen. Es muss radikale Änderungen im Lebensstil, in der Politik, im Wirtschaftssystem sowie neue Innovationen geben. Zeit ist nicht mehr viel da. Bis 2050 hat sich die Weltgemeinschaft völkerrechtlich verbindlich zu dem 2-Grad-Ziel bekannt. Das heißt: Die globale Erwärmung muss auf deutlich unter 2 Grad Celsius begrenzt werden. 

Werde aktiv neben deinem Studium! Initiativen gibt es genug. Oder gründe selbst eine. Denn wir als Geographiestudierende können nicht wegschauen. Auch KEIN-Engagement ist für uns schon eine politische Entscheidung und für uns keine Option.

Unsere Forderungen

An die Lehre:

  • Die geographische Lehre sollte Fakten und wissenschaftliche Erkenntnisse nicht allein stehen lassen, sondern in einen realen Kontext setzen. Sie soll Mensch-Umwelt-Probleme lehren und dafür Handlungsoptionen und Perspektiven aufzeigen. (Nicht nur über Autoverkehr reden, sondern Konzepte einer autofreien Stadt vorstellen und Initiativen vorstellen.)
  • Die geographische Lehre muss demokratische Partizipationsmöglichkeiten aufzeigen. Wir reden in der Geographie über Probleme und Lösungen, aber wie genau können sich Studierende einbringen. Welche Rechte der Teilhabe hat mensch in Deutschland? Wie sieht der rechtliche Rahmen für Aktivismus aus (z.B. Demonstrationsrecht)

An jede*n Geographiestudent*in:

  • Werde politische aktiv! Die Geographie lehrt systematische Zusammenhänge zwischen Mensch – Umwelt zu erkennen und Probleme zu verstehen. Deine Konsequenz daraus kann nur sein: Engagiere dich politisch und verharre nicht nur beim bewussten Bio-Konsum!
  • Zeig Eigeninitiative und sei kreativ. Es gibt viele Formen des Protests und viele Themen. Schau nicht nur welche Gruppen es in deiner Stadt gibt, sondern auch was es noch nicht gibt, aber geben sollte.
  • Hinterfrage den rechtlichen Rahmen der demokratischen Teilhabe. Es gibt Graubereiche, wie zivilen Ungehorsam(Sitzblockaden, etc.).. Auch sie sind legitim und bewirken manches mal mehr. Suche Nischen in denen auch demokratische Teilhabe möglich ist.
  • Studier länger, sofern es dir möglich ist. Ein Geographiestudium in Regelstudienzeit ist mit Aktivismus schwer kombinierbar. Studier doch ein paar Semester länger und nimm dir Zeit für deine Projekte, denn Aktivismus benötigt Energie, Zeit und kluge Köpfe – und das zahlt sich auch nach kapitalistischer Effizienzsicht aus, denn du lernst unglaublich viel dabei. 

 

Quellen:

 AK Kritische Geographie: Geographie mal       anders – Die Suche nach emanzipatorischer  Theorie und Praxis, [online] http://kritische-geographie.de/ueber-den-ak/ [30.06.2019]

Deutsche Gesellschaft für Geographie DGfG: Geographie – Eine Disziplin stellt sich vor, [online] https://geographie.de/studium-fortbildung/geographie-eine-disziplin-stellt-sich-vor/ [30.06.2019]

Markard, Morus (2011): Was bedeutet „kritische Wissenschaft“? – Beitrag zur Ringvorlesung des AstA der uni Köln [online] http://www.asta.uni-koeln.de/wp-content/uploads/2011/04/Handout-Markard-Was-ist-kriWi.pdf [30.06.2019]